Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 04.06.2005, Nr. 127 / Seite 1

Deckten Beamte die Flowtex-Betrüger?


In Karlsruhe beginnt der Amtshaftungsprozeß gegen Baden-Württemberg

Von Alfred Behr


STUTTGART, 3. Juni. Dem Ausgang des Verfahrens, das am Freitag vor der
2.Zivilkammer des Landgerichts Karlsruhe begonnen hat, sieht der
baden-württembergische Finanzminister Stratthaus (CDU) wahrscheinlich
mit Unbehagen entgegen. Es handelt sich um den größten Amtshaftungsprozeß in
der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. 113 Banken,
Leasinggesellschaften, Unternehmen und Einzelpersonen fühlen sich um
insgesamt 1,1 Milliarden Euro von der früheren Firma Flowtex betrogen,
die ihren Sitz im badischen Ettlingen hatte. Sie argumentieren, wenn die
baden-württembergische Landesregierung und die ihr nachgeordneten
Behörden die Scheingeschäfte der Flowtex-Betrüger Manfred Schmider und Klaus
Kleiser rechtzeitig aufgedeckt und unterbunden hätten, wären sie, die Kläger,
von immensem Schaden verschont geblieben. Zu den Klägern gehören auch zwei
Banken, an denen das Land Baden-Württemberg beteiligt ist.


Schmider und Kleiser hatten mehr als 3000 nur auf dem Papier vorhandene
Bohrmaschinen an Leasinggesellschaften verkauft und wieder
zurückgemietet. Der Betrug wurde über Tarnfirmen verschleiert. Der wirtschaftliche
Schaden, der dadurch entstand, wird auf zwei Milliarden Euro beziffert. Es war
der größte Fall von Wirtschaftskriminalität in der deutschen
Nachkriegsgeschichte. Die Flowtex-Betrüger Schmider und Kleiser wurden
im Februar 2000 verhaftet und Ende 2001 zu langjährigen Haftstrafen
verurteilt.

Der Flowtex-Skandal erreichte schnell auch eine politische Dimension,
denn auf Antrag von SPD und Grünen wurde im Stuttgarter Landtag ein
Untersuchungsausschuß eingesetzt, der aufdecken sollte, ob Politiker in
die Affäre verwickelt seien. Die Opposition vermutete, möglicherweise hätten
ein oder mehrere Minister ihre "schützenden Hände" über die Betrüger
gehalten.
Anhaltspunkte dafür hat zwar keine der vielen Zeugenvernehmungen ergeben
- dennoch sind im Zusammenhang mit der Flowtex-Affäre zwei Minister
überraschend gestürzt. Wirtschaftsminister Walter Döring (FDP) mußte
zurücktreten, nachdem im Zuge der Ermittlungen bekanntgeworden war, daß
das Flowtex-Tochterunternehmen Flow-Waste der FDP 10000 Euro gespendet
hatte, um eine für Döring freundlich ausgefallene Meinungsumfrage zu seiner
Wirtschaftspolitik zu bezahlen. Wenige Wochen nach Döring trat
Justizministerin Werwigk-Hertneck (FDP) zurück, weil sie Döring vorab
über Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen ihn wegen des Verdachts der
Falschaussage vor dem Untersuchungsausschuß informiert haben soll.
(Fortsetzung Seite 2.) Gegen beide Politiker ist von der
Staatsanwaltschaft Strafbefehl erlassen worden. Die Beschuldigten wollen es auf ein
Gerichtsverfahren ankommen lassen.

Als die von Flowtex geprellten Gläubiger im Februar 2003 die
Staatshaftungsklage einreichten, erhob der Insolvenzverwalter Eberhard
Braun den Vorwurf, Betriebsprüfer des Finanzamtes Karlsruhe hätten schon 1996
das Betrugssystem erkannt. Die Finanzverwaltung sei jedoch nicht
eingeschritten und habe es pflichtwidrig unterlassen, die Staatsanwaltschaft umfassend
zu informieren. Wäre dies geschehen, so Braun, wäre der Flowtex-Betrug im
Juni 1996 zu Ende gewesen. Der frühere Leiter der Staatsanwaltschaft
Baden-Baden sagte als Zeuge vor dem Untersuchungsausschuß, es sei ein bedauerlicher
Fehler gewesen, daß ein damals mit der Sache beauftragter
Oberstaatsanwalt nicht weitergeforscht habe und das Gericht nicht schneller eingeschaltet
worden sei. Wenn es einen Strafbefehl gegen Schmider gegeben hätte,
wären die Banken hellhörig geworden, "und Schmider hätte es danach nicht mehr
so leicht gehabt".

Pikant ist, daß die finanzpolitische Sprecherin der Grünen im Landtag,
Heike Dederer, im Februar 2003 öffentlich erklärte, die von Flowtex
geschädigten Banken hätten mit ihrer Staatshaftungsklage gute Aussicht auf Erfolg.
Der Aktenvermerk eines Betriebsprüfers aus dem Jahr 1996, so Frau Dederer,
belege die Mitwisserschaft von Betriebsprüfern, Steuerfahndern und der
Oberfinanzdirektion Karlsruhe "ohne jeden Zweifel". Wenn das Gericht
dies auch so beurteile, greife die Amtshaftung; der Staat müsse dann für die
Fehler seiner Beamten geradestehen. Frau Dederer gehörte für die Grünen
dem Untersuchungsausschuß an, mußte ihr Mandat in diesem Gremium aber
niederlegen, nachdem bekanntgeworden war, daß sie dem Frankfurter
PR-Berater Hunzinger, über dessen Firmenzuwendung Wirtschaftsminister Döring
gestürzt war, vertrauliche Protokolle zugesandt hatte. Und inzwischen ist Frau
Dederer auch nicht mehr Mitglied der Grünen, sondern sitzt als
Abgeordnete der CDU, die mit der FDP in Stuttgart regiert, im Landtag.

Nachdem die Staatshaftungsklage eingereicht worden war, hatte
Finanzminister Stratthaus gesagt, er nehme diese Klage "ungeheuer ernst", aber sie
beunruhige ihn nicht. Er glaube nicht, daß die Kläger Erfolg haben
würden.
Die Streitschrift der Kläger umfaßt 334 Seiten. Namhafte Juristen sind
der Ansicht, die zuständigen Beamten des Landes hätten ihre Amtspflichten
"auf mehrfache Weise verletzt". Andere Sachverständige sind der Meinung, die
Erfolgsaussichten der Staatshaftungsklage seien ungewiß. Selbst wenn den
Finanzbeamten eine Amtspflichtverletzung nachzuweisen wäre, folge daraus
nicht unweigerlich eine Haftung des Landes. Rechtlich könnten der Bund,
die Länder oder die Gemeinden nicht für jeden finanziellen Schaden zur
Rechenschaft gezogen werden, der durch Fehler von Beamten verursacht
worden sei.

Andererseits hat das Land Baden-Württemberg schon schmerzlich erfahren
müssen, daß Fehler oder nicht sorgsam abgewogene Bemerkungen von Beamten
teuer für die Staatskasse werden können. Als der frühere Stuttgarter
Regierungspräsident Bulling vor Jahren vor angeblich mikrobiell
verdorbenen Teigwaren des Nudelherstellers Birkel warnte, klagte die Firma mit
Erfolg und erhielt 1991 fast dreizehn Millionen Mark Schadenersatz. Bulling
mußte gehen. Zu den vielen Merkwürdigkeiten, die der
Flowtex-Untersuchungsausschuß aufgedeckt hat, gehört auch ein Vorfall aus dem
Jahr 1986. Damals gab es einen Raubüberfall auf Manfred Schmider in seiner Ettlinger
Villa. Vieles spricht dafür, daß Schmider die Räuber gedungen hatte, um die
Versicherung um zwei Millionen Mark zu betrügen. Denn die Räuber waren, wie sich
später herausstellte, Bekannte von ihm. Die Polizei hatte Verdacht geschöpft,
doch die Staatsanwaltschaft Karlsruhe stellte die Ermittlungen ein. Eine
denkwürdige Rolle spielte die Staatsanwaltschaft auch 1994, nachdem ein
Finanzbeamter entdeckt hatte, daß Schmider und sein Bruder einander gegenseitig
als Inhaber maroder Firmen Scheinrechnungen über fiktive Umsätze
in Höhe von 247 Millionen Mark ausgestellt hatten. Mit diesen Luftgeschäften
wollten sie die Banken täuschen, um kreditwürdig zu bleiben. Das Finanzamt
Karlsruhe-Durlach schickte die Akten in dieser Sache zur Staatsanwaltschaft
Baden-Baden, die Geldbußen erhob, ohne, wie üblich, die Zustimmung des
zuständigen Gerichts einzuholen.

Nachdem ernsthafte Zweifel an der Seriosität von Flowtex aufgekommen
waren, schauten Prüfer des Finanzamtes genauer hin, ließen sich bei Stichproben
aber von ein paar tatsächlich vorhandenen Bohrmaschinen täuschen, die
von den geschickt agierenden Betrügern vorgewiesen werden konnten.
Ermittlungen wegen Betrugs wurden immer wieder eingestellt. Der Fiskus nahm
unverdrossen Steuernachzahlungen in Millionenhöhe für die Scheingeschäfte ein. Erst
im Oktober 1999 wurde der Skandal aufgedeckt. Im Prozeß in Karlsruhe geht
es nun darum, welche Erkenntnisse die Finanzbehörden im Laufe der Jahre
gesammelt haben und ob diese richtig oder falsch bewertet worden sind.
Auch wird zu klären sein, ob sich zumindest einer der zuständigen
Betriebsprüfer strafrechtlich schuldig gemacht hat. An insgesamt fünf
Verhandlungstagen sollen fünf weitere Finanzbeamte und ein Staatsanwalt vernommen
werden. Als letzter Verhandlungstag in erster Instanz ist der 30. Juni vorgesehen.
Der baden-württembergische Ministerpräsident Oettinger (CDU) sieht der Klage
"gelassen" entgegen.