Nachrichten, die man nicht überall findet.
Und das Große Spiel geht weiter
Rußland, Hamas und der Mittlere Osten
05.03.2006
Uri Avnery (Schriftsteller)
Übersetzung Ellen Rohlfs
"Wenn man die Politik eines Landes verstehen will, dann sollte man sich die Landkarte
ansehen", riet Napoleon. Damit wollte er sagen: Regime kommen und gehen, Herrscher
steigen auf und fallen, Ideologien blühen auf und vergehen aber die Geographie
bleibt ewig. Es ist die Geographie, die die grundlegenden Interessen eines jeden Staates
bestimmt.
Vladimir Putin, Erbe der Zaren und Kommissare, schaute auf die Landkarte. Sah sie an und
griff zum Telephon, um die Hamasführer einzuladen.
Vor hundert Jahren war die ganze Region zwischen Indien und der Türkei ein Schlachtfeld
zwischen Rußland und der wichtigsten westlichen Macht dem britischen Imperium.
Abenteurer, Spione, Diplomaten und Intriganten aller Art durchstreiften das Gebiet. Dieser
Wettstreit war als "Das Große Spiel" bekannt.
Mit der Zeit wechselten die Akteure. Die Bolschewisten nahmen den Platz der Zaren ein, das
amerikanische Imperium folgte dem britischen. Aber das Große Spiel ging weiter.
Als die Sowjetunion zusammenbrach, schien es, als sei das Spiel zu Ende. Der russische
Einfluss verschwand aus der Region. Das sowjetische Imperium löste sich auf, und was
übrig blieb, war zu schwach, zu arm, um an dem Spiel teilzunehmen. Es hatte keine Jetons.
Und nun veränderte Putin alles mit einem Schlag. Die Hamas nach Moskau einzuladen, war
ein genialer Schachzug: er kostete nichts und setzte Rußland wieder zurück auf die Karte
des Mittleren Ostens. Während die ganze Welt vom Hamassieg noch verblüfft und verwirrt
war, benützte Putin nüchtern das scharfe Skalpell der Logik und machte den ersten Zug
eines neuen Spiels.
Auf diese Weise nutzte der neue Zar aller Russen die Schwäche seiner Rivalen aus.
Präsident Bush hat sich selbst in eine düstere Position gebracht. Als alle anderen
Vorwände für sein blutiges irakisches Abenteuer sich in Luft aufgelöst hatten, hisste
er eine neue Flagge: Demokratie im Mittleren Osten. Er zwang den Palästinensern Neuwahlen
auf. Bei dieser Wahl, der demokratischsten, die man sich vorstellen kann, war der Sieger -
ach! - Hamas.
Was tun? Erklären, demokratische Wahlen seien nur gut, wenn sie das Ergebnis liefern, das
wir wünschen? Die Palästinensische Behörde boykottieren, die nun die "Zweite
Demokratie im Mittleren Osten" ist ? Die Palästinenser aushungern, bis sie die
"richtige" Führung wählen?
Bush könnte natürlich die gewählte Hamas-Regierung anerkennen. Aber wie könnte er das
tun? Schließlich haben die Vereinigten Staaten Hamas auf ihre Liste der
Terror-Organisationen gesetzt - nicht nur ihren militärischen Flügel, sondern die ganze
Bewegung, einschließlich der Kindergärten und Moscheen. Nun sind sie gefangen im
"Kampf der Kulturen", der apokalyptischen Schlacht zwischen dem Westen und dem
Islam.
Nichts kann getan werden. Amerika ist wie ein Schachspieler, der sich in der Patt-Position
befindet - unfähig, noch einen Zug zu machen.
Europa befindet sich in einer ähnlichen Situation. Wie ein psychisch Kranker in einer
Zwangsjacke kann es seine Arme nicht bewegen. Es zog sich selbst diese Jacke an. Unter
amerikanischem und israelischem Druck setzte es Hamas auf seine Terrorliste und
verurteilte sich so selbst zu völliger Unfähigkeit in der neuen Situation.
Putin lacht nicht oft. Aber jetzt erlaubt er sich vielleicht ein leises Lächeln.
Auch die Palästinenser sind ziemlich verwirrt. Bei diesen Wahlen haben sie sich selbst
überrascht, und sogar die Hamas.
Innerhalb der Fatah gibt es sich widersprechende Ansichten, was nun zu tun sei. Der
Großteil des palästinensischen Volkes verlangt klar eine große Koalition, die alle
Parteien einschlösse, um die Krise zu überwinden und einen Boykott der
Palästinensischen Behörde durch die Welt abzuwenden. Aber das auf die Partei
beschränkte Interesse der Fatah sagt etwas anderes: Laßt uns Hamas zwingen, alleine zu
regieren. Sie wird sich das Genick brechen, die Welt wird sie boykottieren. Nach ein oder
zwei Jahren wird die palästinensische Öffentlichkeit Fatah an die Macht zurückholen.
Das ist Realpolitik, aber gefährlich. Während der ein oder zwei Jahre wird die
israelische Regierung die Siedlungen erweitern, noch mehr der Mauer bauen, neue Grenzen
festlegen, das Jordantal annektieren nur der Himmel ist die Grenze. Die Reaktion
der palästinensischen Öffentlichkeit könnte völlig anders sein als das, was sich die
Fatahleute vorstellen.
Hamas ist auch verblüfft. Ihr ist voll bewußt, daß die Wahl weniger ein ideologischer
Durchbruch war, als eine Protestwahl eher gegen die Fatah als für die Hamas. Nun
muß Hamas das Herz des palästinensischen Volkes gewinnen und das Volk wünscht
sich ein Ende der Besatzung und endlich Frieden.
Hamas will nicht, daß die Welt die Palästinensische Behörde ächtet und die
Bevölkerung aushungert. Aber sie kann nicht am Tag nach ihrem Sieg plötzlich ihre Haut
wechseln. Was würden die Palästinenser sagen, wenn sie auf einmal erklärte, sie sei
bereit, Israels Existenzrecht anzuerkennen, sich zu entwaffnen und ihre Charta für null
und nichtig zu erklären? Daß sie ihre Seele dem Teufel verkauft hätte, um die
Annehmlichkeiten der Macht zu genießen? Daß sie ebenso korrupt wie die Fatah ist?.
Wenn Israel und Amerika die Hamas auf den Weg des Friedens führen wollten, dann würden
sie ihren Weg zum gewünschten Ziel erleichtern. Sie könnten Wege für die Übergabe des
den Palästinensern gebührenden Geldes finden. Sie könnten mit einer Ankündigung
zufrieden sein, daß die neue Regierung sich auf die Oslo-Abkommen gründet (was die
Anerkennung Israels mit einschließt), ohne zu fordern, daß die Hamas sich öffentlich
erniedrigt. Sie könnten mit dem Hudna (Waffenstillstand) für eine Übergangsperiode
einverstanden sein und allen gewalttätigen Aktionen beider Seiten ein Ende bereiten.
Hamas könnte dadurch entwaffnet werden, daß ihre Kämpfer in die offiziellen
Sicherheitskräfte einbezogen werden. Und natürlich und am wichtigsten: Gefangene
könnten entlassen werden.
Aber die gegenwärtige israelische Regierung zeigt kein Interesse, es Hamas leicht zu
machen. Und wenn die israelische Regierung nicht daran interessiert ist, welcher
amerikanische Politiker, wenn er nicht auf Selbstmord aus ist, kann etwas anderes sagen?
In Israel gab der Sieg der Hamas keinen Anlaß zu Sorgen und Klagen. Im Gegenteil. Die
israelischen Führer konnten sich nur schwer zurückhalten, auf der Straße zu tanzen.
Endlich ist vollkommen klar, daß es "niemanden gibt, mit dem man verhandeln
kann". Wenn Yasser Arafat kein Partner war und Mahmoud Abbas kein Partner war, dann
ist Hamas die Mutter aller Nicht-Partner. Keiner kann uns tadeln, wenn wir mit den
"gezielten Tötungen" weitermachen, die palästinensische Wirtschaft zerstören,
Mauern bauen, das Gebiet der West Bank zerteilen, das Jordantal abschneiden und im Grunde
alles tun, was uns gefällt. Und wenn, mit Gottes Hilfe, der palästinensische Terror
wieder anfängt, können wir jedem erwidern: "Das haben wir doch gesagt!"
Aber in Israel gab es auch eine Menge Verwirrung. Auf amerikanischen Druck hin war Ehud
Olmert gezwungen, den Palästinensern wenigstens einmal die Einnahmen zu überweisen, die
Israel in ihrem Namen eingezogen hat. Sofort wurde er angegriffen, er habe sich Hamas
"ergeben". Selbst dieser kleine Akt, gestohlenes Geld zurückzugeben, hat einen
politischen Sturm verursacht. Die in 24 Tagen stattfindenden israelischen Wahlen werfen
ihre Schatten voraus.
Nun kommt Putins gewagter Schritt. Dieser macht es für die Hamasführung leichter, ihre
Haltung zu mäßigen falls sie bereit ist, sich dem politischen Spiel
anzuschließen. Er macht es auch der Regierung Israels leichter - falls die Regierung
Israels Dialog und Frieden wünscht. Und vor allem verkündet er, daß Russland sich
wieder an dem Großen Spiel beteiligt.
-------------------------------------------------
Anmerkung zum Angriff der Hamas auf Israel ab 07.10.2023:
In den Medien wird viel davon berichtet. Rein rechtlich hätte aber die Frage der
Verhältnismäßigkeit geprüft werden müssen, was zwar nicht einfach ist (Siedlerpolitik
Israels, Abschottung Gaza etc.), aber sein muß. Die Infos dazu sind zu dürftig.