Report Mainz vom 9. Dezember 2002

Deutschland/Türkei – die absurde Spionage-Anklage


Moderation Bernhard Nellessen:

Dürfen, sollen, müssen die Türken in die EU? Um diese Frage ringt Ende der Woche der EU-Gipfel in Kopenhagen. Über diese Frage streiten die Politiker in Deutschland. Fast gleichzeitig beginnt - von der deutschen Öffentlichkeit bisher kaum beachtet – demnächst ein Prozess in Ankara gegen deutsche Staatsbürger. Dieser Prozess hat mit einem rechtsstaatlichen Verfahren, wie wir es kennen, wenig zu tun. Die Bundesregierung hält sich vornehm zurück. Hintergründe von Vera Schmidberger und Sebastian Bösel.

Bericht:

So sieht also ein Staatsfeind aus, einer, der ein Komplott im Ausland plant, ein Spion, der im Auftrag der deutschen Regierung Böses im Schilde führt. Genau so einer soll Klaus Schönig sein – angeblich.

O-Ton, Dr. Claus Schönig, Orient-Institut Istanbul:

Dr. Claus Schönig, Orient-Institut Istanbul

»Ich soll eine Zentrale geleitet haben im Zusammenhang mit finsteren Plänen gegen die Türkei. Eine Verschwörung, Geheimbündelei gegen den türkischen Staat. Und diese unsere angebliche Geheimorganisation soll zur Zerstörung des türkischen Staates, zur Aufhetzung der Minderheiten und auch letztlich zur Errichtung eines islamischen Staates führen in der Türkei.«

Dabei ist Claus Schönig ein Sprachwissenschaftler. Er leitet ein deutsches Forschungsinstitut in Istanbul. Doch seit einiger Zeit steckt er in einem Strudel unglaublicher Vorwürfe. Wir wollen wissen, was dahinter steckt.

In Istanbul treffen wir Hans Schumacher. Er ist Chef des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung. Seit 15 Jahren organisiert die SPD-nahe Stiftung hier Vorträge und Veranstaltungen. Mehr Demokratie in der Türkei heißt das Ziel. Doch auch Schumacher soll nun ein Staatsfeind sein.

O-Ton, Hans Schumacher, Friedrich-Ebert-Stiftung Istanbul:

»Als ich zum ersten Mal von diesen Vorwürfen gehört habe, habe ich ganz automatisch gedacht: lächerlich, das nimmt niemand ernst. Aber dann habe ich zu meinem Entsetzen sehr bald merken müssen, das wird von sehr vielen ernst genommen.«

Alles begann mit diesem Buch eines türkischen Wissenschaftlers. Eine wilde Verschwörungstheorie, die den Deutschen die Maske von der hässlichen Fratze reißen will. Danach unterwandern die deutschen politischen Stiftungen und andere Organisationen den türkischen Staat, stacheln Minderheiten auf. Und sie paktieren mit Umweltgruppen.

Buch

Es geht um Gold. Deutschland versuche, Proteste anzufachen und damit den Goldabbau in der Türkei aus egoistischem Wirtschaftsinteresse zu hintertreiben.

So absurd die Vorwürfe klingen, dieser Staatsanwalt hat daraus tatsächlich eine Anklage gemacht. 15 Personen wird darin Geheimbündelei vorgeworfen. Acht von ihnen sind Deutsche, darunter auch Wulf Schönbohm von der CDU-nahen Adenauer-Stiftung in Ankara. Die Arbeit der Deutschen, sagt Schönbohm, sei bestimmten Kreisen schon länger suspekt.

O-Ton, Wulf Schönbohm, Konrad-Adenauer-Stiftung Ankara:

»Weil wir für unsere Arbeit und unsere Projekte Geld von der Regierung bekommen, ist dann ganz schnell der Gedanke nahe – aha, ihr seid von der Regierung gesteuert!«

Doch wer sind die Drahtzieher hinter der Anklage? Für Experten steht fest: Europafeindliche Kräfte wollen mit der Klage gegen deutsche Staatsbürger das politische Klima vergiften. Ihr Ziel: Einen möglichen EU-Beitritt der Türkei verhindern.

O-Ton, Prof. Mathias Rohe, Islamwissenschaftler und Jurist:

»Zu verlieren beispielsweise hat das Militär. Darin treffen sie sich sicher auch mit den extrem rechtsgerichteten politischen Kräften, die jetzt zwar aus dem Parlament hinausgewählt wurden aus dem neuen, aber die nichtsdestotrotz doch da sind. «

O-Ton, Prof. Udo Steinbach, Islamwissenschaftler:

»Sie sind in allen Teilen der Gesellschaft verankert, auch in allen Teilen der politischen Klasse. Es gibt beinharte Fundamentalisten, die aus religiösen Gründen dagegen sind, diesen christlichen Klub zu betreten.«

Die angeklagten Deutschen werden demnach für eine politische Anti-EU-Kampagne missbraucht.

O-Ton, Prof. Udo Steinbach, Islamwissenschaftler:

»Die Justiz marschiert auch hier, weil starke politische Kräfte da sind, die das stützen.«

O-Ton, Prof. Mathias Rohe, Islamwissenschaftler und Jurist:

»Ich denke schon, dass es eine entscheidende Schlacht werden könnte zwischen den EU-Befürwortern und den Gegnern.«

Wie stabil ist also die Lage in der Türkei, wenn die Fundamentalisten die Justiz benutzen können? Der Wahlsieg des selbst ernannten Reformers Erdogan scheint viele zu blenden.

Berlin, Kurfürstendamm vor wenigen Tagen. Diese Türken sind für den Beitritt ihres Landes in die EU und machen dafür in ganz Deutschland mit Unterschriftenaktionen kräftig Werbung. Sie meinen, die Türkei ist reif für Beitrittsverhandlungen.

O-Ton, Safter çinar, Türk. Bund Berlin-Brandenburg:

»Sie hat, wie gesagt, die Demokratisierung vollzogen. Es ist eine Umwandlung der Wirtschaftspolitik im Gange, eine Umwandlung der staatlichen Struktur. Die Grundlagen sind geschaffen.«

Bei Gerhard Schröder rennen die Türken damit offene Türen ein. Gemeinsam mit Frankreich will sich der Kanzler dafür stark machen, dass schon ab 2005 mit der Türkei über den Beitritt verhandelt wird.

Das würde auch die Grünen freuen. Vor ein paar Tagen in Berlin. Die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung hat zur Diskussion über die Türkei eingeladen. Sogar der türkische Botschafter ist gekommen. Wie pikant, gerade mal zwei Meter neben ihm sitzt die Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, Fügen Ugur. Und auch sie steht nun bald in der Türkei vor dem Gericht.

Die Böll-Stiftung in der Zwickmühle: Man feiert den demokratischen Wandel eines Landes, das nur leider gerade die eigene Stiftungsvertreterin anklagt – gegen alle Regeln eines Rechtsstaats. Dieses Problem passt nicht so recht zur Türkei-Euphorie. Erklärungsversuche:

O-Ton, Claudia Roth, B’90/Grüne:

»Ich kann nicht sagen: Weil dieser völlig unrechtmäßige Prozess stattfindet, gebe ich jetzt der Türkei die rote Karte. Weil, wenn ich ja dann die rote Karte gebe, dann ändert sich nichts in Richtung, dass solche Prozesse unmöglich werden.«

Womit haben wir es also zu tun? In dieser Woche EU-Gipfel in Kopenhagen. Deutschland will der Türkei ein Datum für Beitrittsverhandlungen nennen, damit die Tür öffnen. Fast gleichzeitig beginnt in Ankara der Prozess gegen deutsche Staatsbürger. Die Bundesregierung will diesen Widerspruch offenbar nicht sehen.

O-Ton, Prof. Udo Steinbach, Islamwissenschaftler:

»Um hierzulande, glaube ich, den Eindruck nicht zu verfestigen, als seien das die bestimmenden Kräfte in der Türkei, als sei die Türkei von ihrem Rechtssystem europäischen Standards nicht gewachsen und als sei die Türkei ein Land, wo die Nationalisten, die Anti-Europäer, die Oberhand hätten. Ich glaube, man spielt es herunter.«

O-Ton, Prof. Mathias Rohe, Islamwissenschaftler und Jurist:

»Demokratie, Rechtstaatlichkeit als die beiden wichtigen Dinge, die nicht nur auf dem Papier stehen müssen, sondern die sich eben auch in der Praxis bewähren, dem steht ein solches Verfahren doch in sehr deutlicher Weise entgegen. Von dem her meine ich schon, dass man es jetzt auch in Kopenhagen wird berücksichtigen müssen, wie es da weiter gehen kann. Jedenfalls die jetzige Nennung eines ganz konkreten Termins für die Aufnahme von Verhandlungen wird dadurch sicher nicht erleichtert, um das vorsichtig zu sagen.«

In zwei Wochen werden die Deutschen vor diesem Gericht in Ankara antreten. Es ist das Staatssicherheitsgericht, über das die EU selbst ganz aktuell schreibt:

Zitat:

»Diese Gerichte arbeiten immer noch nicht in Einklang mit internationalen Standards. Laufend wird berichtet, dass die Justiz nicht immer unabhängig und kohärent urteilt.«

In Deutschland hat man das lange nicht für möglich gehalten, dass es tatsächlich zu diesem Prozess kommen würde. Zu lange. Jetzt kommt erstmals Kritik von einem führenden SPD-Außenpolitiker.

O-Ton, Hans-Ulrich Klose, SPD, stellv. Vorsitzender Auswärtiger Ausschuss:

»Bisher haben wir die Erfahrung gemacht, dass unsere uns beruhigenden Analysen nicht gehalten haben. Wir hatten die Vorstellung, die Sache würde eher eingestellt werden, weil die Anklagepunkte auch wirklich absurd sind. Und es ist immer wieder gesagt worden, man werde sich darum kümmern. Es hat ja vielfach Interventionen gegeben. Aber es hat sich nichts geändert, und es ist Anklage erhoben worden, und jetzt ist ein Gerichtstermin angesetzt. Ich nehme die Sache ernst.«

Klaus Schönig als einer der Angeklagten nimmt die Sache sogar sehr ernst. Schließlich drohen ihm bis zu 15 Jahre Haft.

O-Ton, Dr.Claus Schönig, Orient-Institut Istanbul:

»Also ich persönlich rechne nicht mit einem schnellen Abschluss des Prozesses, sondern damit, dass er sich länger hinziehen wird. Und wenn ich daran denke, was das alles für Konsequenzen haben wird für mich persönlich, schaue ich doch mit einiger Bedrücktheit in die Zukunft.«

Weihnachten wird Claus Schönig übrigens nicht feiern können. Die Türken haben den Prozessauftakt ausgerechnet auf den 26. Dezember gelegt.


Links:


Deutsches Orientinstitut, Hamburg
http://www.doihh.de/

Orientforschung an der Universität Erlangen-Nürnberg
www.jura.uni-erlangen.de/Lehrstuehle/rohe/

Friedrich-Ebert-Stiftung
http://www.fes.de/

Konrad-Adenauer-Stiftung
http://www.fes.de/

Heinrich-Böll-Stiftung
http://www.boell.de/

Friedrich-Naumann-Stiftung
http://www.fnst.de/


Moderation:
Bernhard Nellessen

Bericht:
Sebastian Bösel
Vera Schmidberger
Kamera:
Ingo Manzke
Ulrich-Vollert
Schnitt:
Jörg Hommer

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