Absender: "The VOICE Refugee Forum" <thevoiceforum@emdash.org>
Empfänger: <thevoicejena@lists.idash.org>
Datum: 13. Feb 2014 14:16
Betreff: Erklärung des The VOICE Refugee Forum zum Gerichtsverfahren gegen den Aktivisten Mbolo Yufanyi Movuh

Institutionalisierte Strafverfolgung Rechtsstaat und Gewaltenteilung
sieht anders aus!

Pressemitteilung des The VOICE Refugee Forum Network
Berlin, den 11.02.2014
http://thevoiceforum.org/node/3465

Seit dem 26. September wurde gegen den Aktivisten Mbolo Yufanyi Movuh vor
dem Amtsgericht Berlin-Tiergarten ein Strafverfahren geführt, weil er am
15.10.2012 in Berlin bei Protesten gegen die kriminelle Zusammenarbeit der
nigerianischen Botschaft mit dem deutschen Staat bei der zwangsweisen
Abschiebung von Flüchtlingen teilgenommen hatte – am 6.2.14 erging nunmehr
das erwartete Urteil. Und der Skandal kennt kein Ende –
gesinnungsjustiziable Argumentationsführungen beim staatsanwaltlichem
Plädoyer und richterlicher Urteilsbegründung inklusive Exkurs in
rassistischer Argumentationsführung im Angesicht des Vorverurteilten!

Der Festnahme-, Ermittlungs-, Anklage- und Prozessverlauf war insgesamt
von gleich mehreren konstitutionellen Verwerfungen gekennzeichnet, die
einerseits der vertikalen Gewaltenteilung innerhalb der Exekutive
(Polizei <-> Staatsanwaltschaft) widersprechen und andererseits erhebliche
Zweifel an der vermeintlichen Unabhängigkeit der Judikative (exekutive
Staatsanwaltschaft <-> Richterin) nahelegen:

1) Zumindest einige, am 15.10.1012 agierende Polizeibeamte haben
nachweislich mehrfach unangemessen Gewalt gegenüber nicht gewalttätigen
Kundgebungsteilnehmern ausgeübt. In Gewahrsam genommene Protest- und
Kundgebungsteilnehmer_innen waren eigenen Berichten zufolge
folterähnlicher und rassistisch motivierter Gewalt von Polizeibeamten
ausgesetzt (Schläge, Übergießen mit kaltem Wasser, Todesandrohungen) –
einige von Ihnen wurden vor der Botschaft unverletzt abtransportiert und
tauchten nach dem Polizeigewahrsam mit teils erheblichen Verletzungen
wieder auf. Diesbezügliche Strafanzeigen wurden seitens der
Staatsanwaltschaft bisher nicht nachvollziehbar verfolgt bzw.
„Ermittlungsverfahren“ (wenn überhaupt durchgeführt?) bereits wieder
eingestellt. Anderseits wurde Antrag der Verteidigung zur Einsichtnahme in
ein Video mit diesbezüglichen Erfahrungsberichten Betroffener am letzten
Verhandlungstag von Staatsanwalt Markus Winkler als irrelevant
zurückgewiesen und von Richterin Marieluis Brinkmann abgelehnt.

2) In den Strafanzeigen der agierenden Polizeibeamten erhobene Vorwürfe
wurden seitens der zuständigen Staatsanwaltschaft („Herrin des
Ermittlungsverfahrens“?) kritiklos übernommen und nur noch um die
entsprechenden Strafrechtsparagrafen und darin enthaltene gesetzliche
Formulierungen ergänzt. Eine vorgeschrieben umfängliche Ermittlung eben
auch entlastender Umstände der vermeintlichen Tatsituationen war in keinem
der bisherigen Verfahren ersichtlich. Als Zeugen wurden seitens der
Staatsanwaltschaft ausschließlich belastende Polizeibeamte benannt, die
teilweise selbst verschiedenste, konstruierte Strafanzeigen erstellt
hatten. Eine eingehende Befassung mit selbst präsentierten Beweismitteln,
wie z.B. Polizeivideos darf aufgrund darin enthaltener entlastender
Bildsequenzen nachhaltig bezweifelt werden. Unterschiedliche
zeugenschaftliche Aussagen der jeweils gleichen Polizeibeamten zu
verschiedenen Ermittlungsverfahren gegen jeweils andere Angeklagte in
zeitlich-örtlichem Zusammenhang waren für Staatsanwaltschaft und Richterin
zu keinem Zeitpunkt auch nur eine Nachfrage oder gar einer
urteilsrelevanten Bewertung wert. Der explizit (und nicht erst im
Plädoyer) formulierte Vorwurf der vorwurfsangepassten Aussagemanipulation
inklusive strukturell illegaler, gemeinschaftlicher Aufnahme
zeugenschaftlicher Aussagen mehrerer Polizeibeamter durch einen
Protokollführer zur gleichen Zeit, wurde faktisch nicht sanktioniert oder
etwa bei der Einschätzung der Glaubwürdigkeit der Belastungszeugen
berücksichtigt.

3) Vor Gericht unterbinden die agierenden Staatsanwälte Markus Winkler und
auch der vertretende Martin Laub wiederholt das Rede- und Fragerecht des
Angeklagten bzw. seiner anwaltlichen Verteidigung (bis hin zur
Verhinderung der Erhebung von Beweismitteln) und werden hierin durch die
verhandlungsführende Richterin Marieluis Brinkmann nicht nur nicht
gehindert, sondern tatkräftig zustimmend unterstützt. Speziell der Herr
Laub „brillierte“ durch Unprofessionalität, wie spontanes Verlassen des
Sitzungssaales ohne begründende Bemerkung oder respektlose Paternalität
gegenüber dem Angeklagten durch Auflegen des ausgestreckten Zeigefingers
auf seinen Mund verbunden mit einem deutlich vernehmbaren „Pssst!“ –
natürlich waren hierzu keinerlei ordnende Kommentare seitens der Richterin
zu vernehmen. Ausschließlich der Angeklagte wurde für seine aufgebrachte
Reaktion gegenüber solcherlei chauvinistischer (Be)Handlung mit
ordnungsrechtlichen Sanktionen bedroht.

Herr Winkler wiederum zeigte sich von Anfang an insbesondere darum bemüht,
Ausführungen der jeweils Angeklagten zu Motivation und Geschichte der
bereits lange vorher begonnenen Proteste gegen die illegale und korrupte
Kollaboration deutscher Abschiebebehörden mit willfährigen Botschaften bei
Abschiebungen von Asylsuchenden unabhängig ihrer tatsächlichen Herkunft
nach Kräften zu unterbinden. Seine fragwürdige Argumentation: da es sich
ja „eindeutig“ um Straftaten handele, spiele die Motivlage ja schließlich
gar keine Rolle mehr (Richterin Herrin des Gerichtsverfahrens?).
Andererseits sah er sich nach entsprechend kommentierender Kritik an
anderer Stelle genötigt, eine Erklärung abzugeben, dass er sich dagegen
verwahre „…als Teil des Schweinesystems…“ wahrgenommen zu werden, was ihm
allerdings niemand jemals so vorgehalten hatte.

In seinem Plädoyer zieht Herr Winkler lediglich den aufgrund der
präsentierten eigenen Videobeweise der Verteidigung nicht mehr länger
aufrechtzuerhaltenden Strafvorwurf der versuchten Gefangenenbefreiung
zurück. Im Weiteren stellt er sämtlich beteiligten Polizeibeamten eine
Unbedenklichkeitsbescheinigung nach dem Motto aus, er könne sich nicht
vorstellen, dass sämtliche Polizeibeamte an diesem Tag auf Gewalt
ausgewesen sein können oder dass diese im gesamten rassistisch motiviert
handeln wollten (eine Implikation, die übrigens Niemand vorher unterstellt
hatte!). Im Übrigen bewertete er die der angeklagten Widerstandshandlung
des Angeklagten vorausgehenden Faustschläge des PK Lamprecht gegenüber
einer Frau und dem Angeklagten selbst (übrigens vor dem Hintergrund einer
glatten Falschaussage des „Zeugen“ im Abgleich mit präsentiertem, eigenen
Videomaterial) als juristisch tadellos, da ja schließlich eine recht
aufgeladen Stimmung geherrscht habe. Die Widerstandshandlung des
Angeklagten (ein Festhalten des PK Lamprecht an dessen Uniformjacke zur
zweifelsfreien Identifizierung eines helmvermummten Polizisten!) sei trotz
der nicht glaubhaft nachvollziehbaren Luftnot des Lamprecht (erneute
Falschaussage!) nicht hinnehmbar und müsse vor dem Hintergrund der
Uneinsichtigkeit des Angeklagten mit einer Geldstrafe in Höhe von 60
Tagessätzen sanktioniert werden.

4) Richterin Marieluis Brinkmann ließ in diesem Prozess wiederholte
Einschränkungen des Fragerechts von Mbolo Yufanyi und seinem Anwalt durch
die Staatsanwalt zu und beförderte diese entweder durch Passivität oder
durch ganz und gar offene Unterstützung. Wiederholte Aufforderungen des
Angeklagten an den hauptbelastenden Polizeizeugen Lamprecht z.B. doch
bitte lauter zu reden (da er selbst kein deutscher Muttersprachler ist),
wurden von ihr mit der Unterstellung abgewiesen, dass dies lediglich aus
Gründen der besseren Verständlichkeit für das hinter dem Zeugen
befindlichen Publikum geschehen würde und der Prozess ja schließlich nicht
„…für die Öffentlichkeit…“ durchgeführt werde. Zudem wurde Ihrerseits
zumindest einmal Mitschriften im Publikum untersagt, weil dieses angeblich
einer vorherigen Presseakkreditierung bedürfe.

Im Gegenzug zeigte sie ein offensichtlich empathisches, geradezu
beschützendes Verständnis gegenüber den Polizeibeamten im Zeugenstand. Sie
disqualifizierte wiederholt die anwaltliche Beweismittelerhebung als „…in
der Sache unerheblich…“, bemerkte in diesem Zusammenhang: sie „…sei dem
Verfahren intellektuell nicht gewachsen.“ und verweigerte eine
Unterbrechung der Verhandlung zur Beratung zwecks Stellung eines
unaufschiebbaren Antrages sowie die wörtliche Protokollierung Ihrer
Aussagen.

Ungeachtet nachgewiesener Falschaussagen bezüglich konstruierter
Anklagepunkte sowie im Hinblick auf Fehlverhalten bzw.
verfahrensangepasste Einlassungen gleich mehrerer Polizeizeugen in
unterschiedlichen Verfahren, entließ sie sämtliche Polizeizeugen
unvereidigt – trotz entsprechender anwaltlicher Erklärungen aus gegebenem
Anlass.
Der Verhandlung selbst folgt sie im Allgemeinen äußerlich eher
desinteressiert und streckenweise mit geschlossenen Augen.

Die Urteilbegründung dieser Frau schlägt jedoch all diese Umstände um
Längen. Zunächst schließt sie mögliche rassistische Motivationslagen
seitens der Polizeizeugen und anderer Polizeibeamten (für das Urteil nach
eigenen Angaben nicht tatrelevant) aus, indem sie auf eine „farbige“
Freundin verweist, die es angeblich nicht rassistisch finde als „Farbige“
tituliert zu werden. (Hierauf verlässt der Angeklagte – der vorher
mehrfach betont hatte, dass er eben nicht so tituliert werden möchte –
empört den Saal und stellt Anzeige beim Staatsanwalt.) Des Weiteren
moniert sie zwar im Folgenden die zweifelhafte Protokollierung
zeugenschaftlicher Aussagen der Polizeizeugen („…ich dachte ich muss vom
Glauben abfallen … das geht gar nicht so.“), misst diesem Umstand aber
keinerlei urteilsrelevante Bedeutung bei. Die eingereichten eigenen
Videobeweise interpretiert die Richterin ganz im Gleichklang mit
Staatsanwalt Winkler einseitig zu Lasten des Angeklagten und in pauschaler
Kritikfreiheit gegenüber den Polizisten.

Ach ja: die Gefangenbefreiung ließ sich nicht bestätigen, weswegen in der
Gesamtschau natürlich „nur“ eine Geldstrafe in Betracht kommen kann – 50
Tagessätze lautet ihr treffsicher nicht salomonisches Urteil.

Bezüglich der im Gerichtsverfahren gegen die hier beschriebenen
Widerstände vorgeblich „unabhängiger“ Instanzen erhobenen Beweismittel und
dem Verhalten der unterschiedlichen Akteure bleibt festzuhalten:
- Der Vorwurf der versuchten Gefangenenbefreiung gegen den Angeklagten
konnte mittels eigener Videodokumentation eindeutig und mittelbar durch
Widersprüche in den Aussagen der belastenden Polizeizeugen widerlegt
werden
- Der Vorwurf des primär gewalttätigen Übergriffes des Angeklagten auf den
PK Lamprecht wurde durch Videobeweis dahingehend verifiziert, dass der PK
Lamprecht selbst zuerst eine Kundgebungsteilnehmerin vor die Brust und
dann den Angeklagten an den Kopf schlug, indem er sogar noch einen Schritt
auf die geschlagenen Personen zuging, bevor ihn letzterer zwecks
Herausgabe seiner Dienstnummer wegen seiner Tätlichkeiten festhielt, da
eine Identifizierung andererseits bei aufgesetztem Helm unmöglich gewesen
wäre.
- Mithin gelang die Wiederlegung der falschen und abgesprochenen
polizeilichen Anschuldigungen nur durch Präsentation eigener
Videodokumentation. Bei bloßer Gegenüberstellung der Aussagen von
Polizisten und Angeklagtem, kann sicher von einem noch schärferen Plädoyer
und entsprechendem Urteil ausgegangen werden.
- Trotz der präsentierten gegenläufigen Videobeweise zeigen agierende
Polizeibeamte, Staatsanwaltschaft und Richterin eine gleichermaßen
selektive Wahrnehmung bezüglich der seitens der Polizei gewalttätigen
Bildsequenzen. Sie seien angeblich belanglos und angemessen. Die „Gewalt“
des Angeklagten durch bloßes „Festhalten und nach vorne ziehen“ sei
dagegen unangemessen und müsse entsprechend sanktioniert werden.
- Die Reproduktion von rassistischen Ansichten, Fremdbezeichnungen und
Sprachgebrauch gegenüber dem Angeklagten, der nicht als „Farbiger“
bezeichnet werden will, findet sich nicht nur bei den Polizisten, sondern
ist genauso bei Staatsanwalt Winkler („irrelevant“) und noch schlimmer bei
Richterin Brinkmann virulent, die zwecks Herstellung einer belehrenden
Deutungshoheit gegenüber dem Angeklagten eine extra befragte „farbige“
Freundin als Beweis zitiert, weswegen diese Bezeichnung gar nicht als
rassistisch eingestuft werden dürfe. Dass der fragwürdige lediglich eine
Verschleierung der Conditio „nicht weiß“ entspricht und damit alle „nicht
Weißen“ in einen Topf wirft, um sie von „weißen“ Menschen chauvinistisch
abzugrenzen, können die (Vor) Verurteiler_innen offensichtlich nicht
ermessen. Es betrifft sie ja nicht selbst.

Diese Grundhaltung reproduziert der Herr Staatsanwalt Winkler in seinem
Plädoyer auch noch zusätzlich, als der in Bezug auf den Zeugen Lamprecht
zustimmend sinngemäß ausführte: ‚Wenn ich als Polizist Dienst hätte, würde
ich auch vor allem Schwarze Menschen kontrollieren.‘ Dies bestätigt einmal
mehr, wie voreingenommen der Staatsanwalt ist und dass auch er keine Scheu
hat, grundgesetzwidrige Kontrollen – auch bekannt als Racial Profiling –
unumwunden gutzuheißen bzw. der Polizei zuzugestehen.

Insgesamt dürfen das Urteil und die zugrundeliegenden Verhaltensweisen
aller beteiligten Offiziellen nicht wirklich verwundern oder überraschen.
Solange es einen Konsens gibt, der Staatsräson heißt und illegitime und
unangemessene staatliche Gewalt entweder ausführen oder aber vertuschen
helfen muss (hier illegale Abschiebungen durch korrupte Kollaboration
deutscher Behörden mit nigerianischen Botschaftsmitarbeitern und
unangemessene Polizeigewalt gegen friedliche Protestteilnehmer), muss
natürlich im Gegenzug dabei auch legitimer Protest und Widerstand gegen
solcherlei Menschen- und Grundrechtsverletzungen – koste es was es wolle –
kriminalisiert werden.
Und das möglichst einhellig und über alle „unabhängigen“ Instanzen hinweg
institutionalisiert.

Hintergrund Info:

• http://thevoiceforum.org/node/3265
• Deportation Chain - Police Brutality at N.E:
http://www.youtube.com/watch?v=7DUBCWZ4em8
• Prozessbericht (Part 8): http://thevoiceforum.org/node/3458
• Prozessbericht (Part 7): http://thevoiceforum.org/node/3451
• Prozessbericht (Part 6): http://thevoiceforum.org/node/3436
• Gericht Verhandlung/Court Hearings in Berlin (Part 5):
http://thevoiceforum.org/node/3419
• Gedächtnisprotokoll (Part 4): http://thevoiceforum.org/node/3407
• Richterliche Willkür - Besorgnis der Befangenheit - Pressemitteilung von
The VOICE Refugee Forum: http://thevoiceforum.org/node/3388
• Gericht Verhandlung/Court Hearings in Berlin (Part 3):
http://thevoiceforum.org/node/3370
• Stellungnahme und Auszug aus der Rede von Mbolo Yufanyi -
http://thevoiceforum.org/node/3344

The VOICE Refugee Forum Berlin
Kontakt: Mbolo Yufanyu Movuh
mobil: +49170-8788124,
mail: the_voice_berlin@emdash.org

Finanzielle Unterstützung: http://thevoiceforum.org/node/3244
Förderverein The VOICE e.V.
Sparkasse Göttingen
Kontonummer 127829
BLZ: 260 500 01
BAN: DE97 2605 0001 0000 1278 29,
BIC: NOLADE21GOE
Kennwort: Botschaftsprotest Nigeria

_______________________________________________
Thevoicejena mailing list
Thevoicejena@lists.idash.org
https://lists.idash.org/cgi-bin/mailman/listinfo/thevoicejena