Um die Rentenkassen zu entlasten werden
selbst schwer kranke Menschen als arbeitsfähig eingestuft und
damit zur Arbeitsagentur abgeschoben.
Sehen
Sie hier noch einmal den Beitrag aus der Sendung
Selbst einfache Handgriffe sind für
Christine Weida ein Problem. Die 53-Jährige ist
herzkrank, leidet unter chronischem Asthma, massiven
Rückenbeschwerden, Gleichgewichtsstörungen und, und, und
– ihre Ärzte nennen das multipel chronisch krank.
Christine Weida ist schwer behindert und auf die Hilfe
von Ehemann Bernhard, der selbst nach einem Schlaganfall
halbseitig erblindet ist, angewiesen. Hinzu kommen
schwere Depressionen. Christine Weida ist in ständiger
psychologischer Behandlung.
O-Ton: Christine
Weida
"Man fühlt sich hilflos, als abgelegtes
Eisen."
Folgerichtig war Christine Weida bis 2003
erwerbsunfähig geschrieben, erhielt eine monatlich Rente
von rund 600 Euro. Der Schock kam mit einem Schreiben
der Rentenversicherung, darin heißt es: ab 2004 werden
die Rentenzahlungen eingestellt. Die LVA erklärt
Christine Weida kurzerhand für
arbeitsfähig.
Zitat:
"Mit dem vorhandenen Leistungsvermögen
können auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Arbeiten
vollschichtig ausgeübt werden."
O-Ton: Bernhard
Weida
"Das Gutachten ist eine einzige Phrase,
das stimmt vorne und hinten nicht. Das hat die LVA gar
nicht für voll genommen. Die haben gesagt, der hat 'ne
Macke scheinbar, so bin ich mir vorgekommen,
verarscht!"
Fakt ist, die schwer behinderte Frau
gehört nun wieder zum Heer der Arbeitslosen, muss sich
um einen Job kümmern. Ihr Mann begleitet sie auf dem Weg
zur Arbeitsagentur, schon aus Sorge, dass seine Frau
stürzen könnte. Angekommen bei der ARGE in Mühlhausen,
hier sucht man nicht mal nach einem Job für Frau
Weida.
O-Ton:
"Frau Weida, Herr Weida, Guten
Tag!"
Aus Sicht der Arbeitsagentur ist die kranke
Frau überhaupt nicht vermittelbar und als Beleg gibt es
sogar ein eigenes medizinisches Gutachten, erklärt
Teamleiterin Bernadette Merold.
"Und zwar wurde von Seiten des
ärztlichen Dienstes der Arbeitsagentur festgestellt,
dass die Frau Weida derzeit nicht erwerbsfähig
ist."
Trotzdem muss erst einmal die
Arbeitsagentur zahlen, rund 200 Euro ALG II im Monat -
Für die Weidas ein Verlust von ca. 400 Euro gegenüber
der ursprünglichen Rentenleistung. Die stehe ihr nicht
mehr zu, meint der Versicherer und begründet das so: Als
es 2003 mit dem Laufen gar nicht mehr ging, hätte
Christine Weida schließlich eine Knieprothese bekommen.
Damit habe sich ihr Zustand zumindest aus orthopädischer
Sicht verbessert.
O-Ton: Andreas Walther,
Deutsche Rentenversicherung Mitteldeutschland
"Grundlage für eine
Erwerbsminderungsgewährung sind natürlich das Vorliegen
von entsprechenden medizinischen Beeinträchtigungen und
diese wurden in mehreren Gutachten überprüft und
aufgrund der Entscheidung der Gutachter bleibt uns hier
keine andere Wahl, als beim entsprechenden vorliegenden
Leistungsvermögen von Frau Weida die Rente
abzulehnen."
Die Rentenversicherer berufen sich
dabei auch auf verschärfte Gesetze, die im Zuge der
Rentenreform 2001 eingeführt wurden. Ein Punkt: Die
Arbeitsmarktsituation wird nicht mehr berücksichtigt -
wer theoretisch über drei Stunden am Tag irgendeine
Tätigkeit machen könnte, hat keinen Anspruch mehr auf
die volle Erwerbsminderungsrente. Aus Sicht des
sächsischen Sozialverbandes VdK wurde mit der
Gesetzgebung Tor und Tür geöffnet, um schwerkranke
Menschen für arbeitsfähig zu erklären – sie damit als
Kostenfaktor los zu werden.
O-Ton: Ralph Beckert, Leiter
der Rechtsabteilung VdK Sachsen
"Weil die Kassen klamm sind und es immer
enger wird mit den Finanzmitteln, ist die Reform 2001
eine Möglichkeit gewesen, den Anspruch oder die Hürde
für einen Anspruch so hoch zu legen, dass die Verwaltung
sich hinter diesem Gesetz leicht verstecken kann, und
sagen kann: Du hast keinen Anspruch, weil du eben auf
dem Arbeitsmarkt jede Arbeit irgendwo machen
kannst."
Inzwischen haben es die Weidas von der
Rentenversicherung sogar schriftlich bekommen, mit
welchen Einschränkungen Christine Weida durchaus
arbeiten könne. Da heißt es unter anderem: "kein Gehen
auf unebenen Böden, keinen Zeitdruck, keine besonderen
geistigen oder seelischen Beanspruchungen und, und, und
– sage und schreibe über 20 Ausschlusskriterien."
Bernhard Weida hat dafür nur bitteren Spott
übrig.
O-Ton: Bernhard
Weida
"Das ist so geschrieben, als ob meine
Frau noch im Liegen arbeiten könnte. Was sie nicht darf,
ist alles Bewegung. Sie darf nicht gehen, nicht stehen,
nicht sitzen, da ist nur Liegen übrig."
O-Ton: Ralph Beckert, VdK
Sachsen
"Man findet die abstrusesten Berufe und
Tätigkeiten, die diejenigen noch ausführen können, was
zwar im Einklang mit dem Gesetz steht, aber auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt diese Tätigkeiten nie in dieser
Zahl vorhanden sind."
Doch das Betroffen, wie
Christine Weida in der Praxis gar keine Chance auf einen
Job haben, das quittiert die Rentenversicherung nur mit
einem Schulterzucken.
Arbeitslosengeld
statt Erwerbsunfähigkeit
O-Ton: Andreas
Walther
"Natürlich ist es schwierig bei der
derzeitigen Arbeitsmarktsituation hier einen Job zu
finden. Nur ist das leider kein Problem der
Rentenversicherung, sondern vermutlich ein Problem des
derzeitigen Arbeitsmarktes, dass einfach Menschen mit
Leistungsbeeinträchtigungen keine Jobs finden, weil
einfach nicht genügend vorhanden
sind."
Offizielle Zahlen, wie viel Betroffene
deutschlandweit von den Rentenkassen ins ALG II
geschoben wurden, existieren nicht. Doch die regionalen
Erfahrungen belegen eine eindeutige Tendenz.
O-Ton: Ralph Beckert, VdK
Sachsen
"Alleine ausgehend von den Verfahren,
die wir im Hause führen, können wir sagen, dass es dort
von ca. 200 Rentenverfahren, 50 Prozent alleine davon
schon in diesen Verschiebebahnhof rein fallen, von der
Rentenversicherung hin zur
Arbeitslosenversicherung."
Im Fall von Christine
Weida will die zuständige Arge jetzt ihrerseits ein
neues medizinisches Gutachten in Auftrag geben. Die
Agentur möchte nicht auf Dauer für die behinderte Frau
zahlen, auch wenn man vorerst in der Pflicht ist.
"Da man ja Frau Weida nicht ohne Hilfe
lassen kann. Geht also die Arge, in diesem Fall das ALG
II in Vorleistung. Es ist auch ein Erstattungsanspruch
beim zuständigen Rentenversicherungsträger
gestellt."
Wer letztlich für den Lebensunterhalt
aufkommen muss, ist also unklar – der Streit darüber
verfolgt die Familie nun schon fast zwei Jahre.
O-Ton: Bernhard
Weida
"Meine Frau war ja vorher, obwohl sie ja
die Rente hatte, war ja meine Frau ein Mensch –
lebensfroh. Also, sie hat gelacht, hat rumgealbert, hat
kein Problem gehabt, mit Leuten zu reden. Und heutzutage
sitzt meine Frau da, wenn wir zu Veranstaltungen
hingehen. Da sitzt meine Frau, die spricht mit keinem
Menschen."