Der Krim-Konflikt und das Völkerrecht

Russland verletzt bei der Auseinandersetzung mit der Ukraine internationales Recht. Die Antwort muss sein, keine russische Annexion anzuerkennen. Von Urs Saxer, Völkerrechtsexperte

Urs Saxer, Völkerrechtsexperte
Drucken
Der russische Präsident Putin und sein Verteidigungsminister Shoigu (vorn) nehmen am 9. Mai an einer Militärparade in Sewastopol auf der von Russland annektierten Krim teil. (Bild: Keystone)

Der russische Präsident Putin und sein Verteidigungsminister Shoigu (vorn) nehmen am 9. Mai an einer Militärparade in Sewastopol auf der von Russland annektierten Krim teil. (Bild: Keystone)

«Rules structure politics», schrieb der amerikanische Politologe Robert O. Keohane. Die derzeitige russische Krim-Politik lässt sich durch Normen und Regeln nicht beeindrucken. Russland, als ständiges Sicherheitsratsmitglied mitverantwortlich für die Erhaltung des Friedens, setzt sich über zentrale Normen des internationalen Rechts hinweg und bereitet die formelle Annexion der Krim vor.

Die Krim in historischer Perspektive

Die Vorgeschichte mag Erklärung, aber keine Rechtfertigung des russischen Verhaltens sein. 1954 «schenkte» die damalige Sowjetführung aus Anlass eines vor 300 Jahren abgeschlossenen Schutzvertrags zwischen der Ukraine und Russland die zur russischen Sowjetrepublik gehörende Krim der Ukraine. Dies war kein selbstbestimmter Entscheid der Krim-Bevölkerung, sondern ein dekretierter Symbolakt der Sowjetbehörden, die nicht ansatzweise den Zerfall der Sowjetunion in ihre Gliedstaaten in Betracht zogen – was, einvernehmlich, Ende 1991 geschah. Mit dem Ende der Sowjetunion respektierten die ehemaligen Sowjetrepubliken formell gegenseitig ihre Grenzen und bekannten sich zum Schutz der territorialen Integrität, und zwar in Übereinstimmung mit dem in der Dekolonisierung entwickelten sogenannten Uti-possidetis-Grundsatz, wonach – im Interesse von Frieden und Stabilität – ehemals innerstaatliche Grenzen als internationale anzuerkennen sind. Das Prinzip schliesst Territorialveränderungen nicht aus; diese müssen indes konsensual in völkerrechtlichen Verträgen geregelt werden. Dies ergibt sich auch aus der Uno-Charta.

Bestrebungen der Krim für einen Anschluss an Russland gab es schon damals. So bezeichnete 1993 das russische Parlament Sewastopol, Heimathafen der Schwarzmeerflotte, als russische Stadt auf fremdem Territorium. 1994 verpflichtete sich Russland mit den USA und Grossbritannien im Budapester Memorandum gegenüber der Ukraine nochmals, als Gegenleistung für einen ukrainischen Nuklearwaffenverzicht die Souveränität, die Grenzen und die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit zu achten. Die Grenzen der Ukraine sind also in völkerrechtlichen Dokumenten auch durch Russland explizit bestätigt worden. Was die russische Bevölkerungsminderheit anbelangt, so setzten nach der ukrainischen Unabhängigkeit Bemühungen der OSZE mit Blick auf interethnische Fragen und Probleme ein. Die Krim mit ihrer russischen Bevölkerungsmehrheit erhielt 1992 einen Status als Autonome Republik mit eigenen Finanzverwaltungs- und Rechtsetzungskompetenzen. So wurden Selbstbestimmungsansprüche der Krim zumindest teilweise befriedigt.

Das Recht zur Selbstbestimmung hat als Prinzip der Uno-Charta seine Ausformung zuerst in der Dekolonisierung und in der postkolonialen Staatsgründungswelle erfahren. Es gibt verschiedene Formen von Selbstbestimmung. Dazu zählen nebst der Eigenstaatlichkeit oder dem Anschluss an einen anderen Staat innerstaatliche Formen der Selbstbestimmung wie Minderheitenschutzarrangements oder Autonomieregelungen als Kompromiss zwischen Selbstbestimmungswunsch und der Achtung staatlicher territorialer Integrität. Die internationale Praxis zieht zum Schutz dieser Integrität diese innerstaatlich wirkenden Spielarten vor. Daher verwirklicht sich nur in Ausnahmefällen Selbstbestimmung über bestehende Grenzen hinweg. Auch dann handelt es sich nicht um ein einseitig ausübbares Recht, sondern um einen international überwachten Prozess, wie das Konfliktmanagement in Osttimor oder im Südsudan zeigte. Vor diesem Hintergrund ist per se an einer Autonomielösung für die Krim nichts auszusetzen. Die Krim wurde ja auch nicht so unterdrückt, dass deren Herauslösung aus der Ukraine sich aufdrängte.

Das Völkerrecht ist eindeutig

Für die russische Führung ist zwar die Vorstellung unerträglich, dass sich die Schwarzmeerflotte einmal auf EU-Territorium befinden könnte. Russland hätte indes die Möglichkeit gehabt, die Krim-Frage einschliesslich der Frage der staatlichen Zugehörigkeit auf die internationale Agenda zu setzen, zum Beispiel im Rahmen der OSZE oder von Uno-Gremien. Stattdessen setzt sich die Kreml-Führung über diplomatische Optionen hinweg und betreibt – von langer Hand vorbereitet – den Anschluss der Krim entgegen dem Willen der Ukraine, indem sie in Anwesenheit eigener Truppen hastig ein improvisiertes Referendum durchführen liess. Damit missachtet Russland die Souveränität, die territoriale Integrität sowie die politische Einheit der Ukraine. Die Präsenz russischer / russisch gesteuerter Truppen, ursprünglich gedeckt durch ein Stationierungsabkommen, mutiert so zur militärischen Bedrohung und Besatzung, was das Gewaltverbot der Uno-Charta, eine Zentralnorm des internationalen Systems, verletzt.

Völkerrechtlich besteht eine Pflicht von Staaten und internationalen Organisationen, Gebietsveränderungen als Folge der Anwendung oder Androhung von Gewalt nicht anzuerkennen. Darum wurden die israelischen Annexionen der Golanhöhen und Ostjerusalems ebenso wenig akzeptiert wie der Versuch Saddam Husseins, Kuwait zu erobern. Russland, international völlig isoliert, hat mit seinem Veto zwar einen Sicherheitsratsbeschluss verhindert, der die internationale Gemeinschaft verpflichtet hätte, das Resultat des Referendums nicht anzuerkennen. Der Grundsatz gilt indes auch ohne Beschluss: Der Anschluss, die Annexion der Krim kann völkerrechtlich nicht anerkannt werden. Volksabstimmungen über die Regelung territorialer Statusfragen sind nur legitim, wenn sie auf Vereinbarungen mit dem betroffenen Staat beruhen und international überwacht werden. Entsprechend muss jeder Staat, müssen die relevanten internationalen Akteure das zentrale Völkerrechtsgebote verletzende Vorgehen Russlands klar verurteilen und mit Sanktionen belegen, damit die internationale Politik wieder von Regeln bestimmt wird.

Urs Saxer ist Professor an der Universität Zürich und lehrt unter anderem Völkerrecht und internationale Beziehungen.